Sonntag, 3. Januar 2010

 

Geisternaechte

Stille lag im Haus. Nichts regte sich und schon seit Stunden war das letzte Licht gelöscht. Dunkelheit breitet sich in jedem Zimmer aus. Nur der Mond malte schaurige Geister an die Wände. Zwar wusste Tom, dass dies nur die Schatten der Äste des alten Kastanienbaumes waren, der vor seinem Fenster stand. Wie oft war er schon auf ihm umhergeklettert, und wie oft hatte seine Mutter es ihm verboten. Sie sorgte sich eben um ihn. Er könnte sich ja verletzen. Aber wie alle Jungen in seinem Alter dachte er nicht daran auf die Worte seiner Mutter zu hören. Es machte ihm einfach Spaß, und er liebte diesen Baum.
Doch jetzt wo es dunkel war, und er nur seinen Schatten sah, und er nur ab und zu das knurren und ächzen der alten Äste hörte, hatte er Angst. Gespenstisch wirkten die Schatten der Blätter, die sich im sanften Spätsommernachtswind wiegten. Oft lag er wach in seinem Bett und konnte die Blicke nicht von diesen Bildern wenden. Manchmal verkroch er sich tief unter seiner Bettdecke. Dann dachte er immer, wie schön es doch war, als er noch das Zimmer mit seinem großen Bruder teilte. Aber das war Vergangenheit. Er mochte nicht mehr daran denken, zu traurig was es für ihn.
Mike war vor sechs Monaten von zu Hause ausgezogen. Er hatte sich eine Arbeit weit weg von hier gesucht. Nicht einmal an den Wochenenden konnte Tom seinen Bruder sehen. Mike arbeitete auf einem großen Schiff und fuhr über die Meere. Ab und an bedachte er seinen kleinen Bruder mit einem Brief. Da Tom mit seinen sechs Jahren erst das lesen und schreiben lernte, konnte er seinem geliebten großen Bruder nicht einmal seine Sorgen schreiben.
Wie schön war es doch immer in solchen „Gespensternächten“, wie Mike sie nannte, gewesen. Sein Bruder zankte nie mit Tom, wenn er aus Angst zu ihm ins Bett gekrochen kam. Schützend und tröstend nahm er ihn dann in die Arme und erzählte ihm die tollsten Geschichten, bis er zufrieden einschlief. Über alles konnte er in solchen Nächten mit seinem großen Bruder reden. Aber jetzt, wo er dieses Zimmer für sich alleine hatte, fühlte er sich einsam und verloren. Schmerzlich vermisste er Mike. Niemand war mehr da, der ihn tröstete, wenn er Angst hatte in der Nacht.
Am Anfang war Tom manchmal zu seinen Eltern ins Schlafzimmer geschlichen, und hatte sich in ihrem großen Bett verkrochen. Aber sein Vater leitete das nicht. Böse schimpfte er Tom aus, er solle doch nicht so ein Angsthase sein. „Nimm dich zusammen, du bist doch kein Baby mehr!“ Seine Mutter nahm ihn dann zwar tröstend in den Arm, brachte ihn schließlich aber zurück in sein Zimmer.
So war es auch heute gewesen. Seine Mutter hatte ihn die letzten Tage, als sein Vater auf Geschäftsreise war, bei sich schlafen lassen. Tom fiel es deshalb um so schwerer wieder alleine hier in seinem Zimmer zu liegen. Tränen rannen ihm aus den Augen und versiegten in seinem Kissen.
Jäh wurde Tom aus seinen Gedanken gerissen. Aus dem Flur drang das Läuten des Telefons zu ihm ins Zimmer. Es war ungewöhnlich, dass um diese Zeit noch jemand anrief. Tom beschlich ein ungutes Gefühl. Irgendetwas musste geschehen sein. Plötzlich, aus irgendeinem unerfindbaren Grund, hatte Tom Angst um Mike. Er hörte, wie seine Mutter aufgeregt im Haus umherlief. Sein Vater redete scheinbar beruhigend auf sie ein. Schnell stand Tom aus seinem Bett auf und ging zur Tür. Als er sie einen Spalt geöffnet hatte, hörte er Mikes Namen. Da stieß er die Tür ganz auf und rannte zu seinen Eltern. „Was ist mit Mike?“ rief er ihnen entgegen.
Seine Mutter blieb unvermittelt stehen und sah ihren Sohn erschrocken an. Dann lächelte sie und sagte:
„Nichts ist mit Mike. Ihm geht es gut. Er hat nur angerufen, um uns zu sagen, dass er nächstes Wochenende nach Hause kommt. Er möchte uns seine Frau vorstellen. So, nun ist hoffentlich deine Neugierde gestillt. Jetzt geh wieder ins Bett. Morgen wartet die Schule auf dich.“ Wieder lächelte sie ihn an.
Tom konnte es nicht glauben. Hatte er wirklich richtig verstanden was seine Mutter ihm sagte? Ihm schien, als wenn sein Herz vor Freude Purzelbäume in seiner Brust schlagen würde. Mike kam nach Hause - sein großer Bruder Mike. Er konnte ihn endlich wiedersehen. So sehr hatte er sich diesen Augenblick herbeigesehnt und nun sollte er nur noch ein paar Tage auf ihn warten müssen. Tom hätte am liebsten die ganze Welt umarmt, wenn nur seine Arme ausgereicht hätten. Endlich sollte er wieder jemanden haben der ihn verstand. Es war zu schön um wahr zu sein.
Als Tom aus seiner freudigen Erstarrung erwachte, ging er schnell in sein Zimmer. Er legte sich in sein Bett und schloss die Augen. Vergessen schien die Angst, die er noch vor ein paar Minuten verspürte. Nichts war mehr wichtig. Nur eines zählte noch. Mike kam nach Hause. Das war alles, woran er noch denken konnte. In Gedanken zählte er immer wieder die Tage, die er noch auf ihn warten musste. Tom war so glücklich und mit diesen Gedanken schlief er selig ein.
Schon bevor sein Wecker ihn mit seinem durchdringenden Summen aus dem Schlaf reisen konnte, war Tom aus seinem Bett gesprungen und im Badezimmer verschwunden. Seine Mutter staunte sehr, als sie in sein Zimmer kam um ihn wie jeden Morgen zu wecken. Sie fand sein Bett leer, wo Tom doch normalerweise das Aufstehen bis zur letzten Minute herauszögerte. Sie hatte es immer schwer ihren kleinen Morgenmuffel aus den Federn zu bekommen. Tom war ein morgendlicher Greisgram, wie er im Buche stand. Doch heute war es anders – ab heute war alles anders für ihn. Seine Mutter war überrascht. So hatte sie ihren Tom noch nie erlebt, jedenfalls nicht, seit Mike das Haus verlassen hatte um seinen eigenen Weg zu gehen.
Zum Frühstück fragte der Junge, der sonst immer still an seinem Essen kaute, ihr wahre Löcher in den Bauch.
„Wann kommt Mike? Ist er schon unterwegs zu uns? Wird er mir etwas mitbringen? Wie lange bleibt er bei uns? ...“ So fragte und fragte Tom. Seine Mutter wusste gar nicht, auf welche seiner vielen Fragen sie zuerst antworten sollte. Ihr blieb nicht einmal genug Zeit ihren Kaffee auszutrinken. Tom war einfach aufgeregt, fröhlich und ungeduldig. Am liebsten wäre es ihm, wenn heute schon Samstag wäre.
In der Schule fiel es Tom heute besonders schwer sich auf die Worte seines Lehrers zu konzentrieren. Immer und immer wieder zählte er in Gedanken die Tage, die er noch warten musst, bis sein großer Bruder endlich wieder bei ihm sein würde. Die Ungeduld schien ihn schier zerreisen zu wollen. Wie sollte er noch fünf Tage in dieser Erwartung aushalten?
Die Zeit schien nicht vergehen zu wollen. Jeder Tag zog sich unerträglich in die Länge. Abends, wenn er zu Bett ging, versuchte er schnell einzuschlafen. Er unterdrückte seine Angst vor der Dunkelheit. Die Schatten die der Mond in sein Zimmer malte, beachtete er kaum noch. Seine Angst war jetzt nicht mehr wichtig, ja er schien sie sogar ein wenig vergessen zu haben. Natürlich war sie noch da, aber die Vorfreude endlich wieder mit Mike zusammen zu sein, nahm ihn voll in ihren Bann. Jetzt lag er nicht wegen seiner Angst wach in seinem Bett, er hatte Mühe bei seiner großen Aufregung und Erwartung Ruhe zu finden.
So vergingen die Tage und Nächte. Jeder war angefüllt mit unerträglicher Erwartung, und endlich sollte es nur noch einen Tag dauern, bis sich sein größter Wunsch erfüllen sollte.
Tom wunderte sich sehr, als er von der Schule nach Hause kam. Seine Mutter war gerade dabei sein Zimmer aufzuräumen. Sie sagte ihm, dass er, solange Mike da sein würde, bei seinen Eltern schlafen sollte. Warum durfte er nicht so wie früher mit seinem Bruden in einem Zimmer schlafen? Mutter erklärte ihm, dass Mike doch seine Frau mitbringen würde, und dass die Beiden in der Nacht ungestört sein wollten.
Seine Frau? Tom hatte es bei all der Aufregung, in der er die letzten Tage lebte, gar nicht mitbekommen. Mike kam ja nicht alleine. Jetzt erinnerte sich er daran, dass seine Eltern so etwas erzählt hatten. Aber Tom hatte es einfach verdrängt. Für ihn war nur wichtig, dass Mike zurück nach Hause kam, er endlich seinen Bruder wiedersehen konnte. Nur das zählte für ihn.
Traurig sah er zu, wie seine Mutter frische Wäsche auf sein Bett aufzog und das Zimmer in Ordnung brachte. Er zeigt ganz offen seine Enttäuschung. Tom hatte keine Lust bei seinen Eltern zu schlafen, jetzt wo er es sollte. Viel lieber wäre er zu seinem Bruder unter die Decke gekrochen, so wie er es früher immer getan hatte – aber das durfte er nicht. ...

 

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